Immer mal wieder gibt es Releases, die meinen inneren Musiknerd wecken. Häufig sind es Platten, die dazu einladen, eine Geschichte zu erzählen und über den Tellerrand hinaus zu blicken. Die einen auf eine Reise mitnehmen. Solche Veröffentlichungen sind selten. Noch seltener ist, dass schon eine bloße Ankündigung diesen Effekt hat. Doch genau das schaffte die dieser Tage releaste Promotion zu Sly & Robbie Present Taxi Gang in Disco Mix Style.
Für diese am 27.01. erscheinende LP hat Reggae-Historiker Steve Barrow acht Aufnahmen aus der Musikschmiede von Sly & Robbie zusammengestellt. Vorab kann man daraus schon die Nummer Rainy Night In Georgie von Tinga Stewart hören:
Über das Musiker- und Produzenten-Duo Lowell „Sly“ Dunbar und Robert „Robbie“ Shakespeare muss man eigentlich keine großen Worte verlieren. Schließlich gehören sie zu den absoluten Größen jamaikanischer Musik. Wer sich noch nicht genauer mit ihnen auseinandergesetzt hat, weiß spätestens Bescheid, sobald er einen Blick auf einige ihrer bekanntesten Produktionen wirft: Bam Bam Riddim, Ini Kamoze’s World A Music, Revolution von Dennis Brown, Black Uhuru’s Sponji Reggae. Auch auf Peter Tosh’s Equal Rights Album haben Drummer Sly und Bassist Robbie mitgewirkt. Die Liste könnte man lange fortführen (laut Wikipedia haben sie angeblich an 200.000 Aufnahmen mitgewirkt!). Vollkommen zurecht wurden sie in 2015 vom Institute Of Jamaica mit der Musgrave Gold Medal für ihre „distinguished eminence in music“ ausgezeichnet. Auch jenseits des Reggae-Kosmos haben sie mit illustren Namen wie Herbie Hancock, Joe Cocker oder Bob Dylan zusammengearbeitet.
Doch die nun auf dem für Reissues bekannten niedersächsischen Label Bear Family erscheinende Platte greift einen anderen Teil der Arbeit der beiden auf. Sie versammelt acht Songs, die zwischen 1978 und 1987 entstanden und auf Sly & Robbie’s Taxi Label releast wurden. Was sie eint: Alle acht sind Übersetzungen von mehr oder minder bekannten Soul-Stücken in Reggae-Gefilde. Somit wirft die Scheibe ein Licht auf einen interessanten Aspekt von Reggae Music: Cover.
Denn Reggae und Coverversionen sind gute Freunde. Aktuell sind sie wieder ziemlich en vogue, denke man nur an die Protagonisten der jungen Reggae-Generation, die den Klassikern der Musik immer wieder mit Neuauflagen Tribut zollen. Doch das Verhältnis hat eine deutlich längere Geschichte. Man könnte glatt sagen: Cover sind fester Bestandteil der Reggae-DNA. Um das zu verstehen, müssen wir einen kurzen Exkurs zu den Anfängen jamaikanischer Studioaufnahmen machen.
Die ersten Recordings unserer Lieblingsinsel, noch bevor Ska und Rocksteady entstanden, waren dem amerikanischen R&B oder Boogie-Woogie der ’50er Jahre nachempfunden 1. Wenig verwunderlich, denn dies war der gefragte Sound beim jamaikanischen Tanzhallenpublikum jener Jahre. Gegen Anfang der ’60er dann änderte sich die Soundästhetik der Produktionen aus den Staaten. Jedoch nicht zum Gefallen des jamaikanischen Publikums. Aus diesem Mangel an frischem Futter für die Dances erwuchsen die ersten jamaikanischen Studios. Die dort entstandenen Aufnahmen sollten in erster Linie die schon damals populären Soundsystems versorgen. Deshalb bedienten sie sich eben bei den populären Vorbildern. Seither sind Cover und Reggae Weggefährten.
Da ist es kaum verwunderlich, dass sich auch in Sly und Robbie’s Katalog diverse Neuinterpretationen finden. Die auf Sly & Robbie Present Taxi Gang in Disco Mix Style kompilierten Stücke gehören zu den feineren dieser Sorte.
Das oben zu hörende Rainy Night In Georgia geht zurück auf Tony Joe White. Dessen Song ist eine melancholische Nummer irgendwo zwischen Singer-Songwriter-Style, Folk und Blues (hier eine Live-Version, solo mit Gitarre inkl. kurzer Ausführung zur Entstehung). Berühmt wurde die Nummer jedoch dank – richtig! – eines Covers. Nämlich dem von Brook Benton, der 1970 eine Soul-Version rausbrachte. Diese wurde in den USA zum Hit und erreichte Platz 4 der Billboard Hot 100 und die #1 der Billboard Best Selling Soul Single Charts. Auf Umwegen landete so das Lied eines Interpreten in Jamaika, der vermutlich herzlich wenige Berührungspunkte mit der Musik der Insel gehabt haben dürfte.
Und dort hinterließ sie Spuren. Denn die Aufnahme von Tinga Stewart ist in Reggae-Gefilden bei weitem nicht das einzige Remake des Songs. Erwähnenswerte Versionen gibt es etwa von John Holt (releast vermutlich ’77), The Gladiators (zw. ’68 & ’76) und The Congos Raining Night In Georgia (2009). Neben einer nicht im Internet zu findenden Dancehall Version von Gregory Isaacs existiert noch ein weiterer Leckerbissen: Prince Buster hat dem Song bereits 1967 2 neue, sehr explizite Lyrics verpasst. Der Spaß trägt den Namen Big Five. Als Sly & Robbie also den Sound-Teppich für Ms. Griffiths knüpften, hatte die Nummer bereits eine merkliche Präsenz im Reggae.
Eine weitere Geschichte von Umwegen erzählt Show & Tell. Auch dieser Song ist nicht dank seiner Originalfassung bekannt. Diese sang 1972 Johnny Matis. Obwohl der mit geschätzt 350 Millionen verkauften Platten zu den bestverkaufenden Artists des 20. Jahrhunderts zählt, war es ein Cover, das Show & Tell zum Hit werden ließ. In 1973 nämlich nahm Soul-Sänger Al Wilson den Song auf – dessen Version wurde zum Hit und sollte Wilsons größter kommerzieller Erfolg werden. In der Sly & Robbie Interpretation wird die Nummer von Ken Boothe performt. Passend, ist er doch einer der soulvolleren Reggae-Sänger, der in seinem Werk immer wieder mit dem Genre flirtete.
Definitiv in keinerlei Genregrenzen zwängen lässt sich Marvin Gaye. Dessen Inner City Blues (Make Me Wanna Holler) gilt als Höhepunkt seines epochalen Konzeptalbums What’s Going On (#6 auf der Rolling Stone 500 Greatest Albums of All Time Liste). Einen solchen Song zu covern ist keine kleine Aufgabe. Sly & Robbie trauten sich dennoch und holten sich für ihre Behandlung Delroy Wilson ans Mikrofon. Was dabei entstanden ist, ist zumindest für meine Begriffe ganz großes Kino. Nicht nur eines der mutigeren, sondern auch eines der gelungensten Cover der jamaikanischen Musikgeschichte.
Wo wir gerade bei Musikgeschichte sind: Fever hat sie genreübergreifend geschrieben. Das Original aus dem Jahr 1956 stammt von Little Willie John. Mit Platz #1 in den Billboard R&B Bestseller Charts und #24 Billboard Hot 100s war es ohne Frage ein Erfolg. Dennoch ist es vermutlich nicht die bekannteste Version. Dieser Titel geht wohl an die (umgeschriebene) minimalistisch-hynotische Fassung von Peggy Lee. Doch es gibt weitere Anwärter auf die Bekanntheitskrone, die in maximal minimalem Abstand folgen. Denn Fever-Covern ihre Stimme geliehen haben – neben vielen anderen – illustre Namen wie Madonna, Beyoncé, Elvis Pressley. Weitere erwähnenswerte Versionen haben Rita Coolidge, die kubanische Sängerin La Lupe und James Brown.
Auf die Sly & Robbie Platte freilich hat es eine andere, eine Reggae-Fassung geschafft. Für diese stand niemand geringeres als die Grande Dame des Reggaes, Marcia Griffiths, am Mikrofon. Die 1988 veröffentlichte Produktion ist stilistisch eng an der Peggy Lee Version, doch dank ein paar kleiner Kniffe eben doch ein Reggae-Unikat. Da wäre zum einen der dezente aber trademarkige Einsatz von Sly’s Drums, natürlich genretypisch gewählt, die das kleine Extra an Groove schaffen. Und Robbie’s Bass, dem es durch sein Spiel (und vermutlich das gewählte Instrument) gelingt, den Song nach Jamaika klingen zu lassen, obwohl die Bassline nahezu identisch ist.
Kurzum: Der Song illustriert beinahe idealtypisch das musikalische Genie der Musiker-Slash-Produzenten Sly & Robbie, die Ausflüge in andere Genres nie gescheut haben, doch stets im Reggae verwurzelt blieben.
Ebenfalls auf der Platte vertreten sind:
- Barry Biggs mit seinem Cover des ’68er The Delfonics Song Break Your Promise 3
- Jimmy Riley mit Sexual Healing, natürlich ein Cover des ikonischen Marvin Gaye Welthits 4
- Junior „Tamlins“ Moore’s Cover von You Must Believe Me, das ursprünglich von Curtis Mayfield’s The Impressions stammt.
- Home T-4 mit Could It Be I’m Falling In Love, im Original von The Spinners, dem übrigens vor ein paar Jahren auch Reakwon Liebe schenkte.
Doch das ist noch nicht alles. Flankiert wird das Release nämlich von einem 20-seitigen Booklet aus der Feder von Noel Hawks, der dem Reggae als Autor und Mitarbeiter diverser Labels seit den 60er Jahren treu verbunden ist. Weil Bear Family Booklets zudem prinzipiell einen exzellenten Ruf genießen, gibt es triftige Gründe, um diesem auch ungesehen einen Vertrauensvorschuss zu gewähren.
Selbiges Fazit ziehe ich für die gesamte Platte. Nicht jede der darauf vertretenen Nummern trifft meinen Geschmack. Allerdings befinden sich ein paar wahre Schmankerl auf der Scheibe, die das Musikfan- und insbesondere das Sammlerherz höher schlagen lassen. Addiere ich dazu noch die geballte Ladung History, die frei Haus mitgeliefert wird, kann ich zumindest nicht mehr Nein sagen.
Erscheinen wird Sly & Robbie Present Taxi Gang in Disco Mix Style auf CD und Doppelvinyl. Bestellen kann man bevorzugt direkt beim Erzeuger (andere einschlägige Händler führen die Platte natürlich ebenfalls).
Picture Credit: Sly & Robbie via Facebook
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