Ich habe es kürzlich schon mal in der Radioshow gesagt: Ich glaube, Reggae & Dancehall stehen rosige Zeiten ins Haus. Die musikalische Entwicklung der letzten zwei, drei Jahre ist höchst erfreulich für Freunde jamaikanischer Musik. Zum einen hätten wir da das Reggae Revival 1, zum anderen ist Dancehall mittendrin in der umsichgreifenden Verschmelzung diverser Genres zu immer neuen musikalischen Spielarten. Spätestens mit Major Lazer hat das jeder mitbekommen. Doch auch jenseits von Diplo, Walshy & Co. gibt es jede Menge Spannendes an diversen Genregrenzen zu entdecken. Kingstep, Raggatronic, Badman Rave – wo solche Begriffe zirkulieren, da wird experimentiert und ausprobiert.
Und wer aufmerksam ist, der stellt fest: Nicht nur an den Rändern des Internets passiert etwas. Nein, die Zeichen stehen, mal wieder, auf Mainstream-Relevanz für Reggae, Dancehall & den „Jamaican Flavour„. Indizien gefällig? Eine Vogue berichtet groß über das Reggae Revival. Rihanna traut sich wieder, klar Dancehall-inspirierte Tracks als Single zu releasen (Work). Oder ein (unbedingt sehenswertes!) Video, das erklärt, warum es sich bei Rihanna’s Single mitnichten um eine Tropical House Nummer handelt, und das binnen zwei Tagen weit über eine halbe Million Views erhalten hat:
Mehr? Drake kramt den Log On Move für sein Hotline Bling Video raus. Die geschätzten Kollegen von Largeup.com haben in dieser Klickstrecke (sry!) noch weitere Ereignisse gesammelt, in denen sich karibische Einflüsse 2015 popkulturell niedergeschlagen haben.
Vorlieben, Geschmäcker, Zeitgeist: All das entwickelt sich in Zyklen. Schon mehrfach hat jamaikanische Kultur – und allem voran natürlich Musik – globale Relevanz erlangt. Klar denkt man zuallererst an die Bob-Marley-Ära, als Reggae zum weltweiten Phänomen erwuchs. Doch auch in den 90’s, als Artists wie Shabba Ranks, Bounty Killer oder Beenie Man Grammy Awards gewannen und mit international erfolgreichen Artists von Rap bis Pop kollaborierten, war Jamaica – diesmal in Form von Dancehall – weit über die Grenzen der Insel präsent und relevant.
Anfang bis Mitte der 2000er Jahre erreichte jamaican music dann den bisherigen Gipfel ihrer Relevanz in der Post-Bob-Marley-Ära. Sowohl Reggae als auch Dancehall waren extrem präsent – von den USA bis Deutschland: 2002 releast Sean Paul das Dutty Rock Album. Das geht in Deutschland, den USA sowie in UK Top 10 und verhilft Paul u.a. zu MTV Music, Source und Grammy Awards. Im Musikfernsehen dieser Zeit ist er dauerpräsent. Auch Ele ist zur Pon De River/Signal De Plane/Jook Gal-Phase allen MTV-Zuschauern ein Begriff 2.
Hierzulande wiederum brachte SEEED 2001 Dickes B raus, was ihnen zum anschließenden Durchbruch und internationalem Erfolg verhalf. 2002 ist Gentleman’s Journey to Jah Album ein Achtungserfolg in einem von Seiten der Musikindustrie totgesagtem Genre. Zwei Jahre später wird Confidence – ein waschechtes conscious roots Album! – dann zum durchschlagenden Erfolg. Es geht auf die Eins der deutschen Albumcharts, erlangt Platinstatus und manifestiert die nationale und internationale Relevanz von Gentleman.
Zugegeben: Das waren jetzt eine Menge Awards, Chartplatzierungen und Zahlenwerk. Das kann man als Indikator für die Relevanz eines Genres anerkennen oder als Mainstream-Sellout-Babylon-Gedöns verwerfen. Egal. Denn: Niemand der die Zeit erlebt hat wird bestreiten, dass die Musik zu dieser Zeit extrem spannend, vielseitig und einfach gut war. Weshalb sie vollkommen zurecht in der Wahrnehmung des Mainstreams landete, möge man davon halten, was man will.
Wenn Subkulturen ihr Sub verlieren
Es ist immer ein zweischneidiges Schwert, wenn Szenen vom Mainstream „okkupiert“ werden – und für die Reggae-Community vielleicht sogar doppelt kompliziert, aber dazu später mehr.
Auf der einen Seite sind da die Menschen innerhalb der Szene, die schon lange dabei sind – in guten wie in schlechten Zeiten sozusagen – die sich fundiert mit der Materie auseinandergesetzt haben und die nun zusehen müssen, wie „ihre“ Kultur plötzlich von zig neuen Gestalten bevölkert wird, die ‚doch nur hier sind, weil es gerade hip ist‘. Im HipHop werden diese Kollegen recht treffend als Realkeeper bezeichnet. Auf der anderen Seite gibt es die Neuankömmlinge, die erst jüngst dank der Mainstream-Popularität aufmerksam wurden.
Klar ist: Die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums bringt Vorteile mit sich und eröffnet einer Szene neue Chancen. Denn mit den neuen Menschen – von denen zwar etliche weiterziehen, sobald der Hype vorbei ist, doch Einige bleiben eben doch dabei 3 – kommen immer auch neue Ideen, junge Talente und frische Impulse. Das sorgt für Dynamik und nur so bleibt eine Szene letztlich spannend für folgende Generationen.
Zusätzlich spült die Aufmerksamkeit einer größeren Masse neues Geld an die eigenen Szeneufer – und Geld ist bekanntlich ein Ermöglicher. Es ermöglicht, Strukturen zu schaffen und sich langfristig aufzustellen. Sich so aufzustellen, dass man auch dann, wenn der Trend vorüber und die ganz große Aufmerksamkeit wieder abgeflaut ist, noch immer solide existieren kann. Denn nur wo Künstler (oder Aktivisten, Sportler – was immer eben die jeweilige Szene konstituiert) ein Auskommen haben, können sie sich gänzlich der Kunst verschreiben.4
Im Laufe der Zeit habe ich etliche Szenen gesehen und mit einigen enger zu tun gehabt. Einigen ist der Schritt, sich eine eigenständige Struktur aufzubauen, besser als anderen gelungen. Einige sind gänzlich auf der Strecke geblieben. Musterbeispiele für Subkulturen, die sich langfristig etablieren konnten sind zum Beispiel die Skateboard-Szene oder deutscher HipHop.
Beide mussten mittlerweile mehrere Hochphasen und Täler durchschreiten. Und beide haben es geschafft, sich während der Hochphasen eine eigene Infrastruktur aufzubauen. So verfügen sie etwa über etablierte Medien und – wichtig! – eine kommerzielle Struktur, online wie offline. Anderen ist das nicht so gut gelungen: Ich war mal in der Aggressive Inline Skating Szene aktiv, die heute quasi nicht mehr existiert. Nicht zuletzt weil sie es versäumt hat, gesunde Strukturen zu schaffen 5.
Heute muss man natürlich sagen, dass es das Internet den Szenen extrem erleichtert hat, sich zu vernetzen und – quasi von zu Hause aus – einen globalen Markt zu bedienen.
Die besondere Verhältnis der Reggae-Szene zum Mainstream
Wenn es um das Thema Mainstream geht, nehme ich die Reggae- & Dancehall-Szene als recht ambivalent wahr 6.
Da wäre zunächst der Umgang mit meinem ersten Punkt: Einflüsse von „Szeneneuankömmlingen“. Einerseits ist Reggae eine inkludierende Kultur – One Love, I&I etc. – andererseits macht sie auf Außenstehende nicht immer den einladendsten Eindruck. Das geht bei unseren Party-Ritualen los 7 und endet bei einem gewissen Dogmatismus, den ich zumindest Teilen der Szene attestieren würde.
Auch das Thema Geld & Aufbau von Infrastruktur ist im Reggae-Kontext mit Extrahürden versehen. Denn wer Babylon anprangert und dem Lebensstil der westlichen Welt seine Fehler vorhält, der tut sich natürlich schwer damit, das Spiel des Marktes mitzuspielen. Allein es führt kein Weg daran vorbei, wenn man seine Musik/Botschaft/Kunst möglichst vielen Menschen zugänglich machen will (was ja mithin das Ziel fast aller Künstler ist).
Weil alles im Reggae irgendwie mit Bob Marley zu tun hat, darf er bei dem Thema natürlich ebenfalls nicht fehlen. Denn der King of Reggae ist ein gutes Symbol für besagte Ambivalenz. Zu Lebzeiten in Jamaika durchaus umstritten, ist er mittlerweile zur Ikone geworden. Muss ich Euch nicht erzählen; kennt Ihr, wenn Ihr bis hier hin gelesen habt. Interessant ist das in diesem Kontext deshalb, weil man in vielen Szenen was anderes beobachten kann: Die Vertreter, die sich weit in Richtung Mainstream bewegt haben, werden vom Kern der Szene eher skeptisch betrachtet 8. Hier ist Reggae also überdurchschnittlich open-minded.
Gleichzeitig stellt Bob Marley für alle lebenden Künstler natürlich das Benchmark dar. Als solches dürfte er, da waren Nils aka Socialdread vom Houseofreggae und ich uns kürzlich einig, wohl als unerreichbar gelten. Die bloße Existenz von Reggae wie wir ihn heute kennen wäre also ohne Marley unvorstellbar. Doch gleichzeitig ist er in der breiteren Öffentlichkeit quasi Pseudonym mit dem Genre an sich. Das macht es für neue Artists nicht gerade einfacher, Gehör zu finden – insbesondere im klick- & damit sensationsgierigem Internetzeitalter. 9
Jaja, es ist ein spannendes Verhältnis, dass Reggae & Mainstream zueinander pflegen.
Der Status von Reggae & Dancehall heute
In meiner Wahrnehmung ist Reggae und Dancehall irgendwo zwischen oben genannten Beispielen Deutschrap/Skateboard und Aggressive Inline Skating anzusiedeln (wobei wir hier nochmal zwischen jamaikanischer und deutscher Szene unterscheiden müssen).
Zunächst wäre da die Tatsache, dass es nach nunmehr knapp 50 Jahren immer noch Reggae gibt und Artists damit ihr Geld verdienen können. Das alleine spricht schon für die Kultur. Oder auch: Für die ganz besondere Qualität dieser Musik, die scheinbar gehört werden will. Denn Langlebigkeit ist an sich schon ein gewisses Gütesiegel. It stood the test of time, sozusagen.
Allerdings hat es die Reggae-Szene bis dato nur bedingt geschafft, eine zeitgemäße Infrastruktur aufzubauen, um ihre Fans zu erreichen. Weil ich mich seit 15 Jahren sowohl mit Reggae als auch Rap befasse, kann ich hier recht einfach vergleichen. Und ohne mit Details zu nerven: Rap hat hier sowohl international als auch in DE ganze Arbeit geleistet, während Reggae & Dancehall in Sachen Professionalität deutlich hinterher ist. Gerade online ist mein Urteil: Die Reggae-Community hat das Internet verschlafen und wacht gerade erst auf. Das geht bei den Artists und deren Umfeld los. Vergleicht z.B. mal, wie schnell man an konkrete Release Dates kommt, gerade von jamaikanischen Artists/Labels/etc. Der gemeine Fan tut sich hier schon schwer und muss tief eintauchen, um sich einen Überblick zu verschaffen, was so geht. Klar, mussten wir früher alle, vor dem Internet, aber Zeiten ändern sich und damit auch Erwartungen.
Oder schaut, wie die jeweilige Medienlandschaft aussieht. Unter Gesichtspunkten von Qualität bis Vielfalt ist hier ein klarer Unterschied erkennbar – selbst wenn wir Reggae global vs. Rap in Deutschland in den Ring werfen. Klar: Bei all dem darf man nicht vergessen, dass es einen gehörigen Größenunterschied zwischen beiden Szenen gibt. Plus, hierzulande kommt zusätzlich zu tragen, dass wir keine vergleichbare heimische Artist-base haben, wie im Rap der Fall. Das erschwert die Sache. Und dennoch fällt es auf. 10
Aber natürlich gibt es keinen Grund für Schwarzmalerei, im Gegenteil. So beobachte ich zum Beispiel, dass die jungen Artists des Reggae Revivals – Chronixx, Kabaka, etc. – die ersten Artists aus Jamaica sind, die auch das „Internet-Game“ verstanden haben und sich zunutze machen. Wen das Thema interessiert, der sollte mal einen Blick auf die jeweiligen Social Media Kanäle werfen. Das ist zeitgemäß. Und ermöglicht damit einem modernen, internetaffinen Musikpublikum überhaupt erst, sich jenseits von Seven Inches und alljährlichen VP Compilations mit der Musik auseinanderzusetzen. Augenscheinlich trägt das Früchte!
Die Lektion
Long story(!) short: Es tut sich was in dieser wunderbaren Musik. Ich glaube, wir können gespannt in die musikalische Zukunft blicken. Und jeder, der Reggae liebt, kann seinen Teil dazu beitragen, dass auch in den kommenden Jahrzehnten die Rede von Reggae und Dancehall sein wird. Wenn man was tut, passiert was. So lautet das Mantra des Machens. Und gerade tut sich was. Spannende Zeiten!
Nuff said! 11
Links aus den Fußnoten:
Heidewitzka: adidas hat Chronixx angeheuert: https://www.reggaeville.com/artist-details/chronixx/news/view/chronixx-is-face-of-adidas-spezial-spring-summer-2017-collection/
Zumindest der Markenbezug zum King of Reggae ist dann schon mal hergestellt 🙂